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„Ich bin ein Zwitter
zwischen Philosophie und Poesie“

 

Friedrich Theodor Vischer (1807–1887)

Von Alexander Reck



Ausgerechnet ein verdorbenes Pilzgericht! Wenige Wochen nach seinem 80. Geburtstag im Juni 1887, der in Stuttgart mehrere Tage lang wie ein Volksfest gefeiert wurde, brach der von den Feierlichkeiten reichlich ermattete Friedrich Theodor Vischer zu einer Erholungsreise ins geliebte Venedig auf. Im oberbayerischen Miesbach (!) verdarb er sich im Wirtshaus an einem Schwammerl-Gericht jedoch den Magen. Nun reise er eben als „Kotzebue“ nach Italien weiter, witzelte Vischer noch, doch wenig später starb er am 14. September 1887 in Gmunden am Traunsee. Die „Tücke des Objekts“ – eine von Vischer geprägte Wendung – hatte ihm selbst noch am Ende seines Lebens einen Streich gespielt! Ein Leben lang haderte er mit dieser „Tücke des Objekts“: mal machte dem katarrhgeplagten Vischer die zugige Frankfurter Paulskirche die Tätigkeit als Abgeordneter zur Qual, mal hinderten ihn Hühneraugen daran, seiner „vaterländischen Pflicht“ zu genügen und 1870/71 in den Krieg gegen Frankreich zu ziehen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der „große Repetent deutscher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und Wahre“ (Gottfried Keller) eine allseits bekannte und anerkannte Persönlichkeit. Vischers Urteile als Literaturkenner und -kritiker waren gefragt, geschätzt, gefürchtet. Es gab kein Metier, in dem sich Vischer nicht bewegt hätte, nichts, wozu er sich nicht geäußert hätte: ob als Literaturhistoriker und Kunstwissenschaftler, Ästhetiker und Philosoph, Literat und Essayist, Briefeschreiber, Theologe, Journalist und Politiker. Zu allen wichtigen Fragen seiner Zeit bezog er Stellung: engagiert, bissig und kämpferisch, aber auch ironisch, zynisch und sarkastisch. Er kritisierte die Kirche, wetterte gegen Tierquäler, empörte sich über das undeutsch-unsittliche Spielhöllenmilieu oder ereiferte sich über „Fußflegeleien auf der Eisenbahn“. Was „Vau-Vischer“ sagte, schrieb oder tat, ungehört blieb es selten. Man berief sich auf ihn und diskutierte mit oder über ihn. Mit seinem Werk Ueber das Erhabene und Komische und seiner vielbändigen Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen war er die maßgebliche Autorität der philosophischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Mit vielen Reden, Aufsätzen und Büchern gehörte er zu den führenden Köpfen der Faust-Philologie und mit seinem Faust. Der Tragödie dritter Teil schrieb er die beste deutsche Literaturparodie. Diese wendet sich sowohl gegen das „halbkindische Altersprodukt“ Faust II des „Allegorientrödlers und Geheimnisdüftlers“ Goethe als auch gegen die Faust-Interpreten – unterteilt in „Stoffhuber“ und „Sinnhuber“ –, die sich an Goethes Faust zu Tode erklären und deuten. Sein literarisches Hauptwerk schuf Vischer mit dem komischen und stark autobiographisch gefärbten Roman Auch Einer, der bis in die 1930er Jahre in hunderttausendfacher Auflage verbreitet war. Als Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik wirkte Vischer weit über die akademischen Fachgrenzen hinaus; in öffentlichen Vorträgen sprach er über Shakespeare, Schiller oder Goethe und zog problemlos dreitausend Zuhörer in seinen Bann.

Geboren am 30. Juni 1807 in Ludwigsburg als Sohn einer altwürttembergischen Bürgerfamilie durchlief Friedrich Theodor Vischer die typisch schwäbisch-theologische Sozialisation: Gymnasium in Stuttgart, Landexamen, evangelisch-theologisches Seminar in Blaubeuren, Tübinger Stift, Vikariat. Vischer entschied sich jedoch gegen eine Pfarrstelle und setzte auf die wissenschaftliche Laufbahn, die ihm schließlich 1844 eine ordentliche Professur an der Universität Tübingen einbrachte. Seine Antrittsrede wurde jedoch zum Skandal und führte zu einem zweijährigen Entzug der Vorlesungserlaubnis. Vischer lebte und lehrte in Zürich – von 1855 bis 1866 – und verbrachte die letzten zwanzig Lebensjahre als Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik am Polytechnikum in Stuttgart. Sein Leben lang saß er zwischen den Stühlen des „Erhabenen“ und des „Komischen“, zwischen der Beschäftigung mit Ästhetik, Kunst und Literatur und dem Kampf gegen die inneren und äußeren Teufel des Alltags, gegen die „Tücke des Objekts“.  

(Aus: Reclams Literatur Kalender 2007. 53. Jahrgang. Stuttgart: Reclam 2006)

 
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